Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte beginnen, die meinen Vortrag grundiert und zeigt, wie wir alle Herr (oder Frau) unserer eigenen Konstruktionen sind:
„Ein Komplott bedroht uns und es geschieht hier in unserem Land!!!
Hast Du bemerkt, dass die Treppen jeden Tag steiler werden,
Lebens- mittel immer schwerer und Entfernungen immer weiter. Gestern ging ich um die Ecke und war verblüfft, wie lang unsere Straße geworden ist! Die Gravitation hat in den letzten 30 Jahren auch stark zugenommen. Ich spüre es besonders beim Aufstehen von meinem Sofa. Unlängst habe ich eine alte Bekannte getroffen und sie ist um vieles älter geworden, so dass sie mich nicht einmal erkannte. Ich selbst kann mein Spiegelbild erkennen. Aber, irgendwie sind sogar die Spiegel nicht mehr so wie sie früher waren. Auch die Hersteller von Kleidung sind zurzeit weniger seriös. Warum bezeichnen sie plötzlich Größe 36 oder 38 als Kleid der Größe 48 und 50?
Glauben sie, dass es keiner bemerkt?
Ich wollte jemandem anrufen und berichten, was da vorgeht, aber die Telefongesellschaft ist auch bei dem Komplott dabei. Sie haben die Telefonbücher in so kleiner Schrift herausgegeben, dass keiner eine Nummer findet!
Wir werden angegriffen!
Wenn bald nichts Entscheidendes passiert, wird jeder bald diese furchtbare Entwürdigung erleiden müssen.
PS: Ich schreibe in Großbuchstaben, weil mit der Schrift in meinem Computer etwas passiert ist: sie ist kleiner, als sie einmal war!“
Sie sehen: die Welt und die Sicht darauf ist ein Frage der individuellen Wahrnehmung. Deshalb ist es gut, dass wir heute im Rahmen dieser Tagung über den Umgang mit Vielfalt sprechen und diskutieren.
Gerne bin ich heute bei Ihnen und danke, dass ich zu diesem Thema zu Ihnen sprechen darf.
Vielfalt begleitet mich als Thema jeden Tag, denn meine Hochschule ist vielfältig und sie lebt Vielfalt aus Überzeugung. Sie hat sich ihr bewusst verschrieben.
Dennoch scheint es mir, dass der Umgang mit Vielfalt für viele von uns nicht selbstverständlich ist. Wir leben in einer vielfältigen Welt, ohne jedoch über die Kompetenz zu verfügen, richtig damit umzugehen, neudeutsch sie „händeln“ zu können. Insofern ist die Frage nach dem Umgang mit Vielfalt relevant.
Eine Annahme, die ich hier postulieren möchte ist, dass Vielfalt nichts objektives ist, sondern eine Eigenleistung von uns selbst. Man könnte auch sagen, Vielfalt liegt nicht da draußen in der Welt, sondern ist in uns selbst. Wir selbst sind es, die Vielfalt in einem aktiven Prozess konstruieren. Dabei spielen drei Konstruktionsprinzipien, denen wir uns laufend bedienen, eine Rolle: Beobachten, Beschreiben und Bewerten: Zunächst müssen wir im Stande sein, Vielfalt erkennen zu können, dann braucht es Kompetenz, sie zu beschreiben und im letzten Schritt sollte die Bewertung erfolgen.
Die Realität sieht indes anders aus: Zum Teil liegt eine Bewertung vor, bevor wir Vielfalt beobachtet, geschweige denn beschrieben haben. Oft erfolgt die Beobachtung zeitgleich mit der Bewertung. Vielfalt zu beobachten, bedarf zunächst der Kompetenz, differenzieren zu können, also Differentes zu konstruieren, und dann der Fähigkeit, das Beobachtete in Verbindung mit den anderen Dingen zu bringen, die eben die Vielfalt ausmachen. Es geht also um die (laufende) Rückkopplung des ausdifferenziert Beobachteten in seinen daraus extrahierten Kontext. Der Soziologe Dirk Baecker würde hier von einem „re-entry“, von einer Wiedereinführung, sprechen.
Wir müssen in unserer Gesellschaft Orte suchen und wenn nicht vorhanden schaffen, die es ermöglichen, diesen von mir genannten Dreiklang aus Beobachten, Beschreiben und Bewerten, bewusst zu reflektieren und zu erlernen. Ansonsten sehen wir ggf. nicht, was wir da machen, wenn wir die Welt laufend ausdifferenzieren und uns gleichsam, zumindest einige von uns, nach Einheit sehnen. Hochschulen sensibilisieren dafür immer noch nicht bzw. zu wenig und auch eine Verortung im Lehrplan - in welcher Form auch immer - steht aus.
Wie dem auch sei, nicht von ungefähr gibt es derzeit eine Sehnsucht nach Achtsamkeit, die ihren Ausdruck beispielsweise im Management in Versuchen eines „mindful leadership“, einer achtsamen Führung, findet; hierin dürfte ein erster Schlüssel liegen, wenn es darum geht, einen (eigenen) Umgang mit Vielfalt zu finden. Noch einmal: Es sind vor allem Schulen und Hochschulen, die für diese Achtsamkeit sensibilisieren müssen, stellen Sie doch, gerade in heterogenen Kontexten ein wunderbares Lernfeld dar, in dem Vielfalt zusammenkommt und/oder vorhanden ist, dies aber nur gesehen wird, wenn man zulässt, Vielfalt zu konstruieren. Dabei bezieht sich diese Achtsamkeit in erster Linie weniger auf die anderen, als auf einen selbst. Es braucht das eigene Gefühl der Achtsamkeit, der
Empfindsamkeit, um offen für den anderen zu sein, um Vielfalt – und das ist der entscheidende Unterschied gegenüber der landläufigen Wahrnehmung – eben nicht nur wahrzunehmen, sondern bewusst konstruieren zu können. Vielfalt kann als einheitliche, homogene Masse, quasi als „einheitliche Suppe“ ohne Differenz beobachtet werden, oder eben als ein schillerndes Gebilde, bestehend aus vielen unterschiedlichen Elementen. Es reicht nicht, sich in einen Kontext zu begeben, der in seiner Selbstbeschreibung auf Vielfalt abzielt, wenn man selbst nicht fähig ist, die Vielfalt wahrzunehmen und diese für sich selbst zu konstruieren. Vielfalt zu produzieren ist also ein aktiver Prozess.
In anderen Zusammenhängen habe ich darauf verwiesen, dass Vielfalt Arbeit macht. Die Arbeit mit einer solchen Perspektive, beginnt bereits im Moment der Konstruktion. Vielfalt, wie Einheit, beide müssen (mehr oder weniger) bewusst konstruiert werden. Vielfalt macht dann zugegebenermaßen mehr Arbeit, wenn mehrere Referenzpunkte bei der Konstruktion einzubeziehen sind. Auch das gehört gelernt und bestimmt wesentlich, ob man mit Vielfalt umgehen kann oder nicht. Es ist also bisweilen ein gutes Stück weit die eigene Entscheidung, ob man sich für Einfalt oder für Vielfalt entscheidet, ob man sich für eine überschaubare oder für eine nur schwer zu durchblickende Komplexität entscheidet. Nicht übersehen werden darf, dass aber bei beiden Entscheidungen noch nicht die Frage final geklärt ist, welcher Umgang denn der leichtere ist. Beide Konstruktionen – also die Entscheidung für Vielfalt oder die Entscheidung für Einheit – bedeuten, dass im sozialen Leben mit ihnen umgegangen werden muss, dass sie „durchgehalten“ werden müssen, möchte man sein eigenes (Wahrnehmungs-)Bild konsistent halten.
In dem einen Fall – Sie erinnern sich an meine kleine Geschichte zu Beginn – muss man bei der Vielfalt unterschiedliche Referenzpunkte managen und es ist sehr wahrscheinlich, dass man mit vielen Widersprüchen und Ambivalenzen konfrontiert wird, die es auszuhalten und dann auch ggf. auszutarieren gilt. Im Fall der Einheit ist davon auszugehen, dass in einer multiperspektiven Gesellschaft laufend Einwände gegen die Einheitskonstruktionen erfolgen, gegen die man sich zu wehren hat, vorausgesetzt das Umfeld, in dem man sich bewegt, beobachtet oder konstruiert Vielfalt. So oder so – Arbeit ist zu leisten!
Wir halten fest: Ob etwas als vielfältig gelten darf, hat entscheidend damit zu tun, ob der Kontext gestattet, etwas als vielfältig konstruieren zu können. Das gleiche gilt auch für die Einheit: auch hier definiert der Kontext maßgeblich, ob Einheit durchgehalten werden kann oder nicht. In jedem Fall gilt: Vielfalt wie Einheit, beides bedeutet Arbeit, da beide in Eigenleistung konstruiert werden müssen. In diesem Punkt treffen sich Vielfalt und Einheit.
Übrigens: wir sind mitten im Thema der behindernden Bezeichnungen, die ja bereits in meinem Vortragstitel auftauchen. Habe ich eben von Beobachten, Beschreiben und Bewerten gesprochen, so muss davon ausgegangen werden, dass jede Beobachtung und Beschreibung, lassen wir mal die Bewertung an dieser Stelle außen vor, als eine Bezeichnung angesehen werden muss. So beobachte ich ein Verhalten aus einer Vielzahl anderer Verhalten und dadurch, dass ich das tue, bezeichne ich es als etwas Bestimmtes. Auch Beschreibung ist eine Bezeichnung. Die sich anschließende Bewertung ohnehin. Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass wir z.B. nur zwischen „gut“ und „schlecht“ zu wählen haben. Bezeichne ich etwas als gut, grenze ich es von Schlechtem oder von sehr Gutem ab. Die Bezeichnung ist ein gleichermaßen behinderndes wie ermöglichendes Konstrukt, als sie für alles, was alleine durch die Bezeichnung ausgegrenzt wurde, etwas Diskriminierendes hat. Die Bezeichnung engt ein – und ermöglicht gleichzeitig durch Diskriminierung den Anschluss, da es eben bezeichnet ist: Es ist klar, über was gesprochen wird; man kann daran kommunikativ anschließen. Oder anders ausgedrückt: Man kann sich auf das Bezeichnete konzentrieren, darauf eingehen, weil es eben benannt ist. Sprechen wir also von behinderten Menschen, so haben wir nicht nur beobachtet und beschrieben, wir haben auch bewertet und bezeichnet und genau dadurch den ersten Schritt der Exklusion getan – und in gewisser Weise auch diskriminiert, obwohl wir diese Gruppe eben gerade nicht benachteiligen wollen.
Auf der Ebene der Worte, und das ist mein Versuch, den ich heute unternehmen möchte, erzeugen wir aber alleine durch die Bezeichnung eine Form der Diskriminierung, da in einer aufgeklärten Gesellschaft, die sich das Ziel gesetzt hat, nicht diskriminierend zu sein, sofort der (reflexartige) Mechanismus der Inklusion einsetzt. Das was bezeichnet ist, ist jedoch in die Welt als neue Unterscheidung eingeführt („behindert“ vs. „nicht behindert“), die nicht mehr zurückzunehmen ist – außer um den Preis, eine neue Unterscheidung einzuführen, die sich über die alte „legt“. So thematisieren z.B. Moral und Ethik, inwiefern es Sinn macht, an Unterscheidungen festzuhalten, oder diese aufzugeben, sollten sie einen diskriminierenden Status entstehen lassen oder aufrechterhalten. Aber alleine diese Diskussion ist nichts anderes, als die Einführung eines neuen „Unterschiedes, der einen Unterschied machen soll“ (Gregory Bateson).
Bleiben wir noch eine Weile bei den Bezeichnungen und betrachten uns die Logik der Inklusion, die letztendlich auf der Begriffsebene und –logik einen ausschließenden Charakter hat. Indem etwas aus einer Gesamtmenge als „behindert“ bezeichnet wurde, verweist Inklusion auf diesen zuvor ausgegrenzten Sachverhalt und gleichzeitig auf die Wiedereinführung des zuvor ausgegrenzt Bezeichneten in das Gesamtgefüge der Normalität. Inklusion ist folglich ein paradoxes Phänomen: Es kann nur erfolgreich durchgeführt werden, in dem zuvor etwas deutlich ausgewiesen, bezeichnet, man kann auch sagen, ausgegrenzt wurde, damit die Inklusion ihre Wirkung entfalten kann.
Allerdings kann man eine Bezeichnung oder Kategorisierung nicht zurücknehmen. Ist die Unterscheidung einmal eingeführt, dann muss mit ihr auch gearbeitet werden, anderenfalls würde nur der Nichtgebrauch an dieser Stelle helfen. Das aber funktioniert nicht, da wir uns an Unterscheidungen gewöhnt haben und daran unsere eigenen Kommunikationen ausrichten.
Zurück zur Inklusion: bereits dieser Begriff ist also eine behindernde Bezeichnung, da er Exklusion voraussetzen muss. Er kommuniziert diese auf seiner „nicht-bezeichneten Seite“. Inklusion ist also auf der bezeichneten Seite (nach Spencer Brown „marked space“) versus Exklusion auf der unbezeichneten Seite (dem „unmarked space“) zu verorten. Und genau diese Teilung zwischen Inklusion und Exklusion ist eine Eigenleistung desjenigen, der sie ins Leben ruft, sie verwendet, da diese erst einmal konstruiert werden muss. Die Beschränkung auf eine Seite dieser Unterscheidung eröffnet bekannte gesellschaftliche Optionen: eine ganze Branche hat sich um den Begriff der Behinderung versammelt und profitiert von ihm: Krankenversicherungen, soziale Arbeit, die Pflege, Konzerne der Gesundheitsindustrie, Sonderschulen und -pädagogiken, um nur ein paar zu nennen.
Inklusion benötigt,, damit sie funktionieren und als Begriff (be)stehen kann, die zuvor eingeführten Konstruktionen von Einheit auf der einen Seite und Vielfalt auf der anderen Seite. Würde es tatsächlich eine differenzlose Einheit geben, dann würde der Begriff der Inklusion seine Existenzberechtigung verlieren, da er selbst aus der Einheit käme und das, was er versucht, zu bezeichnen, bereits Teil der Einheit wäre. Behinderung, Ausländersein, Homosexualität, um nur ein paar Beispiele zu nennen, wären nicht wirklich auszudifferenzieren, da sie eben Teil einer Einheit wären, die nur als undifferenziert Ganzes funktioniert.
Im Gegensatz dazu steht Vielfalt, die als Begriff die Summe der Unterschiedlichkeiten darstellen soll. Vielfalt an sich wird bereits als eine Klammer der Vielfalten gedacht. Dabei entpuppt sich die Inklusionsfigur als Joker, der Unterschiedlichkeit mit Verweis auf Vielfalt in diese inkludieren will. Behinderung – um bei einem Beispiel zu bleiben – wird als ein Element der ganzen Vielfalt konzipiert. Behinderung ist eine Ausdifferenzierung und wird neben den anderen Vielfalten gesetzt. Die Einheit, die so unter dem Deckmantel der Vielfalt entsteht, ist eine Summarische und nutzt die Inklusion als Kunstgriff, um diese herzustellen.
Vorsicht, denn nun scheinen wir dem Begriff der Inklusion zu viel aufzubürden. Habe ich oben davon gesprochen, dass es eine Sehnsucht nach einer Einheit zu geben scheint und dass es neue Differenzierungen braucht, um alte Differenzen – hier zwischen Inklusion und Exklusion – aufzufangen, so finden wir tatsächlich eine weitere Bezeichnung, die sich gegenüber der Inklusion abgrenzen möchte: nämlich der Begriff Integration. Er versucht, ein wenig verkürzt formuliert, das Ausgegrenzte in das System zu integrieren (nicht von ungefähr bedeutet die Übersetzung von Integration „heil, unversehrt machen, wiederherstellen“), während die Inklusion versucht, die Differenz in das System zu integrieren (und dort gesondert handbar zu machen). Hier geht es also um mehr als Inkludieren, es geht um Einschließen. Ich möchte so weit gehen, folgende Definition zu wagen: Der Begriff der Integration ist als gesellschaftlicher Kunstgriff zu verstehen, die Differenz zwischen Inklusion und Exklusion aufzuheben, um eine wie auch immer geartete Form der Einheit herzustellen.
Die Gesellschaft ist ausdifferenziert und differenziert sich weiter aus. Sie steigert damit die Sehnsucht des Einzelnen angesichts der zunehmenden Komplexität nach der Konstruktion von Einheit. Daher bleibt es nicht aus, dass einfach ausdifferenzierte Phänomene respektive Bezeichnungen wie z.B. „Behinderung“ nicht genügen. Die Behinderung als Einzelbegriff ist mittlerweile zu grobkörnig, es ist eine Einheit, die nur mehr als leidliche Klammer funktioniert, da die Einzelbehinderungen genannt werden wollen. Das macht bereits die Einladung zum heutigen Tag deutlich, in der auf Rollstuhlfahrer, Blinde, Verhaltensauffällige verwiesen wird. All diese wollen und müssen (zu Recht) gesondert betrachtet werden; niemand möchte mit den anderen in einen Topf geworfen werden. Unsere Gesellschaft räumt mittlerweile jedem das Recht auf Differenzierung ein. Man kann auch sagen: es braucht zuerst das Recht auf eine gesonderte Bezeichnung, die – was im Gegensatz zum Rest – automatisch sofort eine Exklusion inkludiert, um dann fokussiert betrachtet wieder in die Vielfalt einbezogen, oder integriert werden zu können. Dabei ist die Vielfalt natürlich ebenso ein Kunstgriff, denn sie ermöglicht es erst, neben dem übrigen Vielfältigen bestehen zu können. Vielfalt als Begriff hat die Einheit abgelöst, obwohl sie selbst eine vereinheitlichende, eine vergemeinschaftende Funktion hat.
Die hier skizzierten Gedankenlassen mich an einen kritischen Einwand des französischen Soziologen und Philosophen Bruno Latour denken, der – zu Recht wie ich meine –, die Frage aufgeworfen hat,
ob wir jemals wirklich modern gewesen sind. Er pointiert noch stärker, in dem er nach einer gesellschaftlichen Analyse zu dem Schluss kommt, dass wir nie modern gewesen sind. Wären wir modern, so Latour, dann würden wir wesentlich symmetrischer an eine Gesellschaft herangehen, die Trennung von Kultur und Natur, von Menschen und Dingen würde obsolet. Und in der Tat hat diese Gesellschaft sich für die Ausdifferenzierung entschieden, die ihr auf der einen Seite die Bearbeitung des Ausdifferenzierten, Dynamik und einen wie auch immer zu bewertenden Fortschritt sichert, gleichzeitig aber auch verhindert, dass das Ganze, was auch immer es noch ist oder sein kann, bearbeitet werden kann.
Ulrich Beck hat in diesem Zusammenhang von der Risikogesellschaft gesprochen. Die Ausdifferenzierung treibt die Auflösung der Einheit voran, Inklusion muss bei Aufrechterhaltung der wie auch immer gelagerten Einheitsidee Programm um nicht zu sagen hoffnungsloses Unterfangen sein bzw. bleiben.
Mit Bruno Latour also, der eine wunderbare Analyse des gesellschaftlichen Zustands geleistet hat, kommen wir wohl kaum weiter, als dass wir konstatieren müssen, dass wir tatsächlich nie modern gewesen sind – oder ist es eben Anzeichen der Moderne, dass wir einen Umgang mit Vielfalt in unserer Gesellschaft trotz überbordender Vielfalt nicht lernen können? Oder liegt gar der Umgang mit der Vielfalt darin, dass wir das hier beschriebene und komplexe und zum Teil paradox anmutende Spiel zwischen Inklusion auf Grundlage vorher zwingend durchzuführender Exklusion in einer ausdifferenzierten Gesellschaft spielen müssen? Brauchen wir diese ausdifferenzierten Begriffe, diese erst einmal behindernde im Sinne von „nicht barrierefreien Begriffe“, um dann einen Umgang damit entwickeln und bezeichnen zu können? Letztendlich dürfte also die Frage, ob wir jemals modern gewesen sind, nur schwer zu
beantworten sein. Vielleicht ist ja das Zeichen der Moderne ihre Ausdifferenzierung – jenseits der Frage, wie das zu bewerten ist.
Umgangssprachlich steht der Begriff „Moderne“ jedenfalls für etwas vermeintlich Positives. In der Moderne angekommen zu sein bedeutet, etwas anderem entwachsen zu sein. In unseren Sinnzusammenhängen etwa aus dem Primitiven, aus etwas, was nicht derart weiterentwickelt war, wie wir, wie es unsere Gesellschaft ist. In der Tat, niemals waren wir so derart ausdifferenziert, wie das heute der Fall ist. Niemals haben wir derart stark exkludiert, um einen Unterschied zu machen, um gesehen zu werden in einer Welt, die sich dann vorgaukelt, modern zu sein, je ausdifferenzierter sie ist. In diesem Sinne sind wir also tatsächlich von einer zweifelhaften Modernität.
Um einen weiteren Schritt in der Bezeichnung zu gehen, müsste man also die Moderne und Ihre Ausdifferenzierung verlassen. Das ist nur schwer denkbar, denn ist etwas erst einmal ausdifferenziert, dann kann darauf nur durch weitere Ausdifferenzierungen reagiert werden. Vielleicht aber könnte in einem postmodernen Sinne, was dann als Weiterentwicklung der Moderne anzusehen ist, der nächste Schritt der Ausdifferenzierung in einer „Umkehrung der Verhältnisse“ liegen. Wenn wir den Titel „Ausgrenzung umkehren“ ernst meinen, dann könnte eine von zwei – möglicherweise vielleicht nicht allzu neuen – Antworten, die ich versuche hier anzudeuten, in einem Bezug auf Michel Foucault liegen. Er hat uns in seinen Schriften ein Gedankenexperiment angeboten: Was, wenn man all jene Institutionen der Exklusionen öffnet, wenn also z.B. geistig verwirrte Menschen nicht mehr weggesperrt, sondern Teil unserer Gesellschaft würden, indem sie quasi selbstverständlich in unserem öffentlichen Leben auftauchen? Natürlich ist es naiv zu glauben, dass das einfach
so funktionieren würde, aber diesen Gedanken wieder in das Bewusstsein der Gesellschaft zu heben, sei an dieser Stelle und in diesem Kontext erlaubt.
Wir waren es, die definiert haben, was bspw. als „normal“ und was als „verhaltensauffällig“ zu verstehen ist. Wir sind es, die aufgrund dieser Konstruktionen Institutionen geschaffen haben, die damit betreut sind, diese Unterscheidung aufrecht zu erhalten (und eben nicht dafür da sind, „objektiv betrachtet“, bedürftigen Menschen zu helfen). Es ist klar, dass Menschen mit bestimmten Behinderungen eine bestimmte Zuwendung brauchen, oder wie das der Ausdruck im Englischen es viel besser auszudrücken weiß es sind: „People with special needs“. Natürlich kann man sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen und in eine Gesellschaft „einfach so“ entlassen. Jedoch, und darauf möchte ich hinaus, liegt in diesem englischen Ausdruck etwas, was uns eventuell helfen kann, eine Antwort darauf zu finden, wie denn eine Teilhabe gesichert werden kann, jenseits behindernder letztendlich exkludierender Begriffe und Praktiken, wie ich das versucht habe, zu skizzieren.
Kommen wir nun also auf meinen zweiten Antwortversuch:
Wären wir eine Gesellschaft, in der jeder von uns sich dessen bewusst ist, was seine Bedürfnisse sind, so würden wir sehr schnell merken, dass es wohl kaum ein Individuum gibt, das nicht über spezielle Bedürfnisse verfügt, die ihn von seinen Mitmenschen mehr oder weniger deutlich abgrenzen.
Wenn unsere Gesellschaft in Anspruch nimmt, , dass sie eine mehr oder weniger ausdifferenzierte ist, darf und kann sie nicht auf der Ebene von mehr oder wenigen, groben Kategorien, wie den bereits erwähnten stehen bleiben: Behindert ist zu grob, sehbehindert, um ein Beispiel zu nennen, ist dabei nur geringfügig feinkörniger. Und was sagt es schon aus? Natürlich ist es lebenswichtig, dass eine
Gesellschaft wie unsere, die hochentwickelt ist und über einen Kapitalstock verfügt, wie kaum eine andere, im öffentlichen Raum für sehbehinderte Menschen eine entsprechende Infrastruktur bereit stellt, so dass sie sich dort bewegen und am gesellschaftlichen Alltag teilhaben können. Jedoch ist damit noch keinesfalls gesichert, dass diese Menschen ihren Bedürfnissen nachkommen können. Bedürfnisse nach Umgang mit Ihnen, nach dem Ausleben von Potentialen, nach seelischer Nähe, nach sozialer Wärme, nach intellektuellem Austausch, als das bleibt an dieser Stelle die Unbekannte.
Machen wir uns als Gesellschaft auf den Weg, uns auf dieser Ebene zu treffen, dann dürften wir die Grenzen von Exkludiertem, das in unsere Gesellschaft inkludiert oder, wie gesagt, integriert gehört, übersprungen haben. Jeder hat seine speziellen Bedürfnisse „special needs“ aber die wenigsten von uns würden sich deshalb als Behinderte bezeichnen – und das, obwohl wir es alle in unterschiedlichen Lebenslagen und -situationen sind. Denn jeder von uns verfügt beispielsweise über Verletzungen, die es ihm in bestimmten Konstellationen schwer machen, mit diesem Leben umzugehen. Genau hier, könnten wir uns alle treffen, sitzen wir, wollen wir dieses oft zitierte Bild bemühen, in einem Boot. Es braucht soll dieser Versuch einer konstruierten Einheit gelingen, zunächst eine Sensibilität für die eigenen Bedürfnisse. Die Wahrnehmungsfähigkeit muss vorliegen, sich selbst spüren zu können. Die Gefühle, die dabei auftreten, muss jeder selbst richtig interpretieren. Dabei bedeutet "richtig" für jeden etwas anderes. Es ist die intuitive Gefühlsebene, die einem das Zeichen gibt, ob man auf dem richtigen Weg zu sich selbst ist. Es braucht ein Reflexionsvermögen, um zu verstehen, was in einem selbst vorgeht. Dazu gehört auch in sich hinein zu spüren, was bestimmte
Differenzen, denen wir uns jeden Tag bedienen, oder besser, die wir jeden Tag auf das Neue selbst konstruieren, mit uns machen. Achtsamkeit ist also das Schlagwort, das wir auf uns selbst beziehen müssen: Konzentration auf sich selbst ist wichtig. Es geht darum, sich aus dem Kommunikationsfluss der Gesellschaft zu exkludieren, aus den Rollen, die man einnimmt, aus den Stereotypen, die man meint, bedienen zu müssen, es geht um den Ausstieg aus Erwartungen, von denen, wenn man genau hinschaut, man sich fragen muss, , ob es tatsächlich die eigenen sind. Es geht um das Loslösen von Zuschreibungen der anderen, da diese Gesellschaft sich dadurch auszeichnet, das Individuum zu einem zu machen, indem es auf die anderen setzt, die einem sagen, wer man ist. Genau dazu gehören eben die (behinderten) Begriffe, wie ich sie zuvor rekonstruiert habe.
Von diesen Begriffen muss man sich in einem ersten Schritt befreien, will man wissen, von was man sich exkludieren möchte, um dann wieder als integrierte Persönlichkeit in eine inkludierte Gesellschaft zurück zu kehren. Die „Zaubertechnik“ könnte dabei Meditation sein, bei der es darum geht, im Hier und Jetzt zu sein, eins mit sich selbst zu sein, ganz konzentriert auf die „Sensationen“, die in einem selbst geschehen. In sich gekehrt, ist man von dieser Gesellschaft in diesem Moment exkludiert. Je geübter und versunkener der Meditierende ist, desto näher fühlt er sich bei sich selbst. Bleibt dieser Bezug auf sich, auf das, was in der Meditation an eigener Weisheit entsteht, dann dürften die Unterscheidungen, die Differenzen, die Exklusionen, die unsere Gesellschaft uns jeden Tag bietet und die wir selbst konstruieren und so diese wieder aufrecht erhalten, schwächer werden, weniger wichtig, bzw. nur diejenige an Kraft behalten, die auch wirklich mit uns etwas zu tun haben.
Nun sind wir fast wieder am Anfang dieses Vortrages angelangt. Im Moment der Meditation dürfte die Konstruktion von Welt mit der Eigenkonstruktion zusammenfallen. Das erscheint mir eine gute Ausgangslage, sich von behinderten Bezeichnungen, von Grenzen, von Exklusionen, von Inklusionen und von den Vorstellungen einer Einheit der Vielfalt zu lösen. Damit ist das Spiel natürlich nicht vorbei, denn diese Gesellschaft lebt von diesem Wechselspiel, von dem Reiz nach einer Ausdifferenzierung, nach einer Exklusion, die Inklusion oder gar Integration nachdrücklich einfordert. Jedoch nur, um dann wieder das Spiel erneut zu beginnen.
Dabei aber ein Stück weit bei sich zu bleiben, dass sollte das Ziel einer Gesellschaft sein, die liebend gern von sich behauptet, sie sei modern. Unsere Gesellschaft dürfte sich erst dann als barrierefrei bezeichnen, wenn es uns als Individuen gelingt, bei uns bleiben zu können, bzw. den Weg zu uns zu finden. Hochschulen, um meiner Herkunft heute auch bei diesem Vortrag gerecht zu werden, sollten versuchen, ein solcher Wegbegleiter zu sein. Wie? Indem Meditation als fester Bestandteil des Lehrprogramms aufgenommen wird. So einen Wunsch darf man haben, gerade wenn es doch darum geht, in einer modernen Gesellschaft neue Differenzen zu setzen, die gleichsam exkludieren, inkludieren und integrieren – und das eben barrierefrei.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.